Eine Geschichte aus Linas Familienalltag:
Rike, Linas 7-jährige Tochter, hat Besuch von einer Freundin, die seit ein paar Wochen neu in der Klasse ist. Die Mutter bleibt noch ein Weilchen da.
Die beiden Mütter genießen einen Kaffee zusammen, als plötzlich die Freundin zu ihrer Mutter gerannt kommt und weint: „Rike lässt mich nicht mit der Puppe spielen und mit dem Puzzle auch nicht.“
Den Blick, mit dem die andere Mutter daraufhin Lina ansieht, kennt sie schon sehr gut von etlichen anderen Gelegenheiten.
Lina seufzt und beginnt zu erklären, warum sie jetzt nicht aufspringt und eben nicht ihre Tochter zwingt zu teilen.
Das Thema „Teilen (lernen)“ war früher in Lisas Familie auch ein großes Thema und gab viele Tränen und Streitereien zwischen ihr und ihrem großen Sohn Jonas.
Durch unsere Arbeit hat sie ihren Blickwinkel und ihre Einstellung grundlegend verändert und ist für sich damit sehr zufrieden. Sie zwingt nun keines ihrer Kinder mehr das eigene Spielzeug mit anderen Kindern zu teilen. Und versucht natürlich auch nicht, sie zu überreden.
Die Reaktionen von außen (von Linas Eltern als Großeltern der Kinder, von anderen Müttern und sogar von der Erzieherin im Kindergarten) waren meist eher negativ. „Ein Kind muss doch lernen zu teilen! Sie müssen das von Anfang an üben, sonst werden sie zu egoistischen Monstern!“ ist so ein Beispiel dafür.
Das ist manchmal schwer zu ertragen, doch inzwischen hat Lina sich damit abgefunden und erklärt der Mutter die Zusammenhänge gerne.
Eine mir als Familienberaterin immer wieder gestellte Frage nimmt das genau auf.
“Wie kann ich meinem Kind beibringen, dass es seine Spielsachen mit einem anderen Kind teilt (Geschwister oder Freunde)?”
Wie lernen also Kinder zu teilen?
Teilen ist ein wichtiger Aspekt unseres sozialen Lebens und ein Bestandteil der sozialen Verantwortung – genau wie zum Beispiel Empathie, Hilfsbereitschaft und Loyalität. Sie ist also wichtig.
Und dann gibt es da noch die persönliche Verantwortung, die genauso wichtig ist.
Die soziale Verantwortung
Sie bedeutet:
Für andere zu sorgen; deren Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen und sie zu erfüllen; die Gefühle der anderen auszuhalten und zu helfen, wenn eine andere Person Hilfe braucht.
Kinder lernen im Laufe ihrer Kindheit, wie sie soziale Verantwortung im Alltag übernehmen können. Sie ist nicht von Anfang präsent.
Die persönliche Verantwortung
Sie bedeutet:
Für sich sorgen; zu den eigenen, persönlichen Wünschen, Bedürfnissen, Grenzen und Gefühlen zu stehen, dieses auszusprechen und sich für die Erfüllung bzw. das Erleben-dürfen einzusetzen.
Sie ist von Anfang an vorhanden und bei kleineren Kinder sehr stark ausgeprägt. Was völlig normal und lebensnotwendig ist.
Im Alltag konzentrieren sich Eltern und andere mit Kindern beschäftigte Personen nahezu ausschließlich auf die soziale Verantwortung und versuchen mit allen Mitteln, dem Kind soziales Verhalten beizubringen.
Vielleicht ist das so, weil es aus Sicht der Erwachsenen scheint, als ob Kinder nur egoistisch seien und überhaupt nicht an andere denken.
Doch das scheint nur so!
Alle Kinder sind von Natur aus sozial orientiert! Sie wollen helfen, anderen beistehen und somit sozial agieren und reagieren.
Doch ein Kind hat noch eine natürliche Empfindung, dass persönliche Verantwortung genauso wichtig und richtig ist wie soziale.
Was dann immer wieder zu Enttäuschung, Frust und Hilflosigkeit führt, weil das Kind vermeintlich asozial reagiert.
Gesunde soziale Verantwortung und soziales Verhalten
entwickeln sich erst
aus persönlicher Verantwortung und persönlichem Verhalten.
Beides ist in unserem Leben elementar wichtig.
Das spüren die Kinder und sorgen im Alltag zuerst für sich und dann erst für andere. Das ist gesund! Es ist normal!
Und es schließt sich nicht gegenseitig aus.
Ein kleiner Gedankenspaziergang
Stell dir mal vor, du wirst per Gesetzt verpflichtet, von nun an deine Haustür/Wohnungstür immer offen zu lassen und jederzeit jedem, der fragt, etwas aus deinem Haushalt zu geben oder es nutzen zu lassen, egal was es ist.
Weil Teilen doch ein soziales Verhalten ist!
Wie fühlt sich das an?
Teilst du dann gerne und mit Vergnügen?
Das ist ein krasses Beispiel, ich weiß…
Und im Alltag gibt es so viele kleinere Beispiele.
Wie oft in deinem Leben hast du jemandem geholfen, etwas geteilt, verschenkt – dich also sozial verhalten und dich dabei nicht wirklich wohl gefühlt.
Hauptsächlich, weil du nicht voller Freude und NICHT mit ganzem Herzen geteilt hast, sondern weil es von dir offen oder versteckt erwartet wurde.
Und du hast dich nicht getraut, dich zu wehren und nein zu sagen.
Erst, wenn dein Kind sicher ist, dass es jederzeit für sich selbst sorgen kann, also seine persönliche Verantwortung übernehmen darf, wird es mit Freuden und allumfassend soziale Verantwortung übernehmen!
Erst, wenn dein Kind für sich sorgen darf, also sicher ist, dass es jederzeit seine persönliche Grenze aufzeigen darf, wird es mit Freuden und aus ganzem Herzen teilen.
Das klingt vielleicht zuerst für dich irritierend und abschreckend.
Vielleicht hast du Bilder im Kopf, dass dein Kind ein total egoistisches Individuum wird.
Verstehe ich.
Vielleicht bist du auch mit ausschließlicher sozialer Verantwortung erzogen worden, wobei du keine persönliche Verantwortung übernehmen durftest.
Und wie geht es dir heute damit?
So viele Menschen, die ich in den letzten 25 Jahren begleitet und beraten haben, konnten kaum für sich einstehen oder ihre Bedürfnisse benennen, geschweige denn danach leben.
Mir persönlich ging es auch nicht anders. Ich habe auch erst in den Aus- und Weiterbildungen gelernt, wie wichtig und lebensnotwendig die persönliche Verantwortung ist.
Also habe ich mich sehr bemüht, meiner Tochter immer ihre persönliche Verantwortung zu überlassen. Sie musste zum Beispiel niemals teilen, wenn sie es nicht selbst wollte und durfte jederzeit sagen, was sie will.
(Was ja nicht heißt, dass immer alles erfüllt wird. Bestimmt nicht. Sagen durfte sie aber alles.)
Jetzt ist sie 16 und nimmt sogar Ärger und Unannehmlichkeiten in Kauf, um anderen zu helfen und in Not beizustehen.
Ganz selbstverständlich und ohne zu Zögern.
Sie hilft anderen und achtet dabei auch auf ihre Grenzen.
Das ist für mich der Inbegriff von Verantwortlichkeit.
Vertraue deinem Kind!
Überlass ihm die persönliche Verantwortung und es wird ganz nebenbei die soziale Verantwortung aus ganzem Herzen übernehmen.
In dem Gespräch zwischen Lina und der Mutter des anderen Mädchens gab es bei der anderen Mutter diesen einen AHA-Moment, den Lina aus unseren Gesprächen auch kennt.
Lina erklärte der Mutter auch, wie sie auf die Beschwerde ihrer Tochter reagieren kann.
Natürlich das Gefühl der Tochter wahrnehmen und ernst nehmen.
Durch ein „Oh, du bist traurig (enttäuscht, wütend etc.), dass du damit nicht spielen darfst? Das verstehe ich. Es gehört Rike und die darf darüber entscheiden, genau wie du über alle deine Spielsachen bestimmen darfst. Ich bin sicher, ihr findet eine Lösung.“
Das Mädchen ging zurück und siehe da – kurze Zeit später waren beide wieder in ihr Spiel vertieft.
Worauf legst du deinen Fokus in der Erziehung deines Kindes?
Siehst du das auch so?
Schreib mir in den Kommentaren. Ich freue mich darauf.
Herzliche Grüße
Cornelia Lupprian
Die Elternlotsin
0 Kommentare